Im Führerstand: Auf der 01 069

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Gegen 11 Uhr kam schließlich Lokführer „Texas“, der alsbald zur Tat schritt und die 01 069 an den auf Gleis 19 des Hauptbahnhofes bereit stehenden Zug fuhr. Um 12.05 Uhr ging dann das Spektakel unaufhaltsam los.

Die Lokmänner nahmen meine Anwesenheit auf dem Führerstand sachlich neutral zur Kenntnis, auch nahm niemand anders an mir Anstoß. Ein D-Zug hat nun mal den unbestreitbaren Vorteil, dass er sich mitsamt Personal überall schnell verflüchtigt.

Erst bei Zossen machte mich „Texas“ auf das unmittelbar bevorstehende Highlight aufmerksam, dass uns in Kürze der „Pannonia“ begegnen werde und dass ich diese Begegnung unbedingt fotografieren müsse. Ich positionierte mich fortan aufnahmebereit an der Klapptür hinter dem Heizer. Immerhin kommen sich zwei mit 120 km/h entgegenfahrende Schnellzüge in einer Minute um vier Kilometer näher.

Wir befanden uns in einer leichten Rechtskrümmung, als „Texas“ heftig gestikulierte. Und tatsächlich tat sich an der linken Seite eine weitere schwer arbeitende Dampflok auf. Es war der „Pannonia“, der uns an einer umgelegten Vorsignalscheibe exakt beim Streckenkilometer 29,2 begegnete, mit der 01 204 bespannt und nicht wie am Vortag durch eine vorgespannte Diesellok verunstaltet.

Unser D 924 kam wie eh und je sicher in Berlin Ostbahnhof an. In der Wendezeit im Bw Rummelsburg bzw. im Abstellbahnhof gingen „Texas“ und „Marlene“ verschiedene Wege. „Texas“ verschmähte das Kantinenessen und nahm mich mit zu einem Tante-Emma-Laden in der Nähe, in dem er schon bestens bekannt war und sich die verdiente Brotzeit genehmigte. Ich besorgte mir dort in aller Stille für die Lokmänner zwei Packungen der Ramiro-Zigarren und einige Schachteln Zigaretten, und musste dabei an dieGeschichte von K. E. Maedel denken, dem es bereits 1936 gelungen war, mittels Zigarren die ungeteilte Zuneigung des Dampflokpersonals, seinerzeit der 17 1179, zu gewinnen.

Das war 40 Jahre später, 1976 in der DDR nicht anders. Bei der Rückfahrt mit dem D 271 ab Berlin-Ostbahnhof um 18.58 Uhr übergab ich den tapferen Lokmännern die Tabakwaren, worauf sich die Laune vor allem von „Marlene“ merklich aufhellte. Der aus Saßnitz von der Insel Rügen kommende D-Zug hatte übrigens etwas Verspätung, so dass bei uns die Abfahrtszeit „plus elf“, also erst um 19.09 Uhr, war.

Wohl dank des Genusses einer exzellenten Ramiro-Zigarre lief „Marlene“ nun zu Höchstform auf und hielt konstant seine „16 Dinger“ Kesseldruck. Dem mehrmaligen Einsetzen des Sicherheitsventils war zu entnehmen, dass er es mit seiner Feuerung manchmal wohl zu gut meinte, was der nun unvergleichlichen Atmosphäre auf einer mit 120 km/h durch die Nacht jagenden und einen langen Funkenregen hinterlassenden Schnellzugdampflok keinerlei Abbruch tat. Die 166,2 Kilometer nonstop vom Zentralflughafen Berlin-Schönefeld nach Dresden-Neustadt waren Genuss, Schnörkellosigkeit, konzentrierte Urform der Beförderung auf der Schiene, schlicht weg arbeitende Dampflok und „höchste Eisenbahn“ im wahrsten Sinne des Wortes. Und nach 3,5 Tonnen verheizter Kohle brachten die Lokmänner mit der 01 069 das Kunststück fertig, auf die Sekunde genau pünktlich um 21.16 Uhr in Dresden Hbf anzukommen.

Dort war wieder Jürgen am Bahnsteig und allem Anschein nach gab es für die Beteiligten am dienstlichen Verhalten des dritten Mannes nichts auszusetzen. Der Kontakt zu Jürgen vertiefte sich noch weiter, er organisierte für mich sogar „die Dampflokbibel“ des Transpress-Verlages in Berlin, „Die Dampflokmotive – Entwicklung, Aufbau, Wirkungsweise, Bedienung und Instandhaltung sowie Lokomotivschäden und ihre Beseitigung“ von 1964.

Am 2. April 1977 fuhr ich mit ihm und wieder mit „Marlene“ die gleiche Leistung mit der 01 137. „Texas“ habe ich leider nie mehr wieder gesehen, nach Verdieselung der 01-Leistungen ging „Marlene“ zu den Schmalspurbahnen bei Dresden, Jürgen lehnte das kategorisch ab. Er wurde sogar noch zum Technologen befördert, verließ dann aber die Reichsbahn. Leider starb er mit erst 48 Jahren im Januar 1990. Man sagt, er hat wohl auch auf Verschleiß gelebt …   

Von Manfred Rössle

Ein Artikel aus LOK MAGAZIN 08/10

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