Keine neue Idee?

Mit dem Projekt Stuttgart 21 erlangte der Hauptbahnhof überregionale Aufmerksamkeit. Doch was kaum jemand weiß: Bereits 1901 gab es einen ausgereiften Vorschlag für einen Durchgangsbahnhof im Herzen der Stadt. Von Herbert Stemmler
 
Was für eine Performance: Die 38 3003 leistet der 18 102 Vorspann vor dem Personenzug 1847. Dessen Länge zeigt, warum das nötig ist (Stuttgart Nord am 8. Juli 1949)                   Carl Bellingrodt/Slg. H. Brinker © Carl Bellingrodt/Slg. H. Brinker

Das Herz der Württembergischen Staatseisenbahnen ist die Zentralbahn Esslingen – Stuttgart – Ludwigsburg, die den Kern der großen Durchgangslinie Bruchsal/Heilbronn – Ulm – Bodensee bildet. Das am Neckar gelegene Cannstatt sollte ursprünglich der Mittelpunkt des künftigen Netzes werden, Stuttgart nur durch eine Stichbahn erschlossen werden.
Für die vom württembergischen König gewünschte zentrale Einbindung der Residenz Stuttgart wurden mehrere Gutachten eingeholt. Klangvolle Namen wie Negrelli, Vignoles, Etzel wirkten an dieser Pionieraufgabe mit. Der Entwurf Karl Etzels wurde realisiert. Da die Stadt am Nesenbach, einem Seitental des Neckars, liegt, waren Art und Richtung des Bahnhofs vorgegeben. 1845, zehn Jahre nach der ersten deutschen Eisenbahn Nürnberg – Fürth, wurde die Strecke Cannstatt – Untertürkheim eröffnet, es folgte im selben Jahr die Weiterführung bis Esslingen.
Im Jahr darauf, am 15. Oktober 1846, erhielt auch Stuttgart seinen Zentralbahnhof im Rahmen der Strecke Cannstatt – Ludwigsburg. Dieser lag als Sackbahnhof nächst der Residenz an der Schlossstraße, der heutigen Bolzstraße. Sein Empfangsgebäude von Karl Etzel war im italienischen Renaissancestil gehalten. Er besaß vier Hallengleise, davon zwei mit Bahnsteigkanten, eine für ankommende und eine für abgehende Züge. Am Kopfende war, wie damals üblich, eine Drehscheibe angeordnet. Ein Teil der Bahnhofsfassade ist heute noch vorhanden. Lokomotivremise und Güterbahnhof lagen nordöstlich im Bereich der heutigen Bahnsteighallen.
Aufgrund der Erweiterung des Streckennetzes wurde auch der Bahnhof in den Jahren 1863 bis 1868 durch den Bau einer zweiten, gleich gearteten Bahnsteighalle erweitert. In der Folgezeit realisierte man verschiedene Vorhaben, um die Leistungsfähigkeit der bescheidenen Stuttgarter Anlagen zu steigern:
– 1894: Aufgabe der alten Lokomotivremise, Bau des neuen Lokomotivbahnhofs und eines Güterbahnhofs beim Nordbahnhof auf der „Prag“, gleichzeitig zweigleisiger Ausbau der Gäubahn mit Erweiterung des Westbahnhofs und Bau einer Verbindungskurve am Nordbahnhof zur Nordbahn.
– 1896: Güter-Umgehungsbahn Untertürkheim – Kornwestheim und „Remsbahnkurve“ zwischen Untertürkheim und Fellbach.

Der neue Hauptbahnhof
Um die vorletzte Jahrhundertwende wurde wegen des raschen Verkehrswachstums das Problem der Umgestaltung der völlig unzureichenden Stuttgarter Bahnanlagen drängend. Aufgrund neuer Strecken und steigender Zugzahlen genügte der alte Bahnhof den Anforderungen nicht mehr. Es stellte sich die Frage: Kopf- oder Durchgangsbahnhof oder gar eine radikale Verlegung der Durchgangsstation nach Cannstatt mit Verweisung Stuttgarts an eine Zweigbahn?

Erste Ideen für »Stuttgart 20«
Bereits 1901 schlug der Ingenieur Albert Sprickerhof einen Durchgangsbahnhof im Talkessel vor, etwa an der heutigen Stelle des Hauptbahnhofs. Sein Bahnsteigbereich lag im Bogen offen unter Straßenniveau. Die Architekturskizze zeigt einen eindrucksvollen Bahnhofsbau im Neurenaissancestil mit Turm, Mittelpavillon, einschiffiger Bahnsteighalle und großzügigem Vorplatz. Westlich der Bahnsteige sollten die Gleise in drei parallele Kehrtunnel durch den Kriegsberg münden.
Ein zweites Durchgangsbahnhofs-Projekt präsentierten Weyhrauch/Berlin und Mayer/Hamburg 1905/6 an etwa gleicher Stelle. Dieses sollte Durchbindungen in fast alle Richtungen ohne Zugwende ermöglichen. Vorgesehen war dies durch einen südlichen Eisenbahnring, der auf Steinviadukten durch die königlichen Anlagen zur damals geplanten linksufrigen Neckarbahn beziehungsweise nach Untertürkheim führen und den Fernverkehr aus Richtung München/Tübingen aufnehmen sollte.
Beide Projekte, vor allem letzteres mit angeschlossener Ringstrecke, können in gewisser Weise als Vorläufer von „Stuttgart 21“, also als eine Art „Stuttgart 20“, gelten.
Beide Vorschläge schieden jedoch nach eingehender Prüfung aus technischen, betrieblichen und verkehrlichen Gründen aus, nicht zuletzt, weil der Quell- und Zielverkehr den Durchgangsverkehr weit überwog.

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