Wir sind wieder wer!

Tradition und moderne 1962, im Gründungsjahr des LOK MAGAZIN, fuhr der neue »Rheingold« mit 160 km/h, während auf zwei Steilstrecken noch Zahnradloks dampften. Nie wieder war die Bahn derart bunt.

 
Der neue Fernschnellzug F 10 „Rheingold“ am allerersten Betriebstag, dem 27. Mai 1962, in Köln Hbf. Seine Fahrt mit exakt der selben Lok und den passenden Wagen wird am 27. Mai 2012 wiederholt werden! Foto: Friedhelm Ernst © Friedhelm Ernst
Vor 50 Jahren wird nicht nur die Deutsche Bundesbahn, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland 13 Jahre alt. Bundeskanzler ist seit 1949 Konrad Adenauer. In der völkerrechtlich noch längst nicht anerkannten DDR regiert hingegen Walter Ulbricht. Die Bundesrepublik wird durch die Spiegel-Affäre aufgewühlt, und der gemeine Arbeitnehmer freut sich über eine Ausweitung des Jahresurlaubs auf 15 Werktage.

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) führen eine gemeinsame Agrarpolitik ein, und in Sachen Energieversorgung beschreitet die Bundesrepublik einen neuen Weg: Die Genehmigung für den Bau des Kernkraftwerks Gundremmingen wird erteilt. Auch für Unterhaltung wird gesorgt: Der Deutschlandfunk nimmt seinen Sendebetrieb auf, und mehrteilige Fernsehfilme sorgen für nie mehr erreichte Einschaltquoten: „Das Halstuch“ von Francis Durbrigde schaffte es, das öffentliche Leben fast lahm zu legen.

Der Kabarettist Wolfgang Neuss wird hingegen zum Spielverderber: In einer Zeitungsannonce gibt er zwei Tage vor Ausstrahlung der letzten Folge den Namen des Mörders preis! Zum Straßenfeger wird auch die amerikanische Westernserie Bonanza, die 1962 erstmals in Deutschland ausgestrahlt wird. Fußball ist längst die Sportart Nummer 1, auch wenn die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft schon im Viertelfinale ausscheidet.

Im Februar 1962 ereignet sich die größte Naturkatastrophe Deutschlands im 20. Jahrhundert, die Sturmflut in Hamburg. Sie fordert mehr als 400 Menschenleben. Die Folgen für die Wohnbebauung, die Infrastruktur und nicht zuletzt für die Bundesbahn sind immens. Eisenbahnfreunde 1962
Die in Deutschland jetzt 127jährige Eisenbahn hatte ihren festen Platz in Volkswirtschaft und Alltag – und im Herzen vieler Freunde. Sich etwas mehr als der Durchschnittsbürger für Lokomotiven und Züge zu interessieren, hieß damals noch nicht, sich zu diesem Thema fünf Kunstdruckzeitschriften zu halten (es gab sie noch nicht) und mit einer hochwertigen Fotoausrüstung (nur eine Minderheit hatte genug Kaufkraft für spezielle Technik jenseits von Kühlschrank und Fernseher) kompromisslos hochwertige Aufnahmen zu erzeugen. Man pflegte mit den Söhnen das Modellbahnhobby, wusste eine 38er selbstverständlich von einer 50er zu unterscheiden, wunderte sich über ihre Vernachlässigung durch das Trio Märklin/Fleischmann/Trix und fuhr auf H0 notgedrungen mit der auf Bundesbahngleisen selten oder nie gesehenen 80 oder 89.

Man besaß ein paar Taschenfahrpläne und Fahrkarten und ein geheiligtes Vorkriegskursbuch, und ja: ein paar dutzend jener wunderbaren Sammelfotos, die ein gewisser Carl Bellingrodt in Wuppertal mit freundlichen Begleitworten verschickte. Ohne im mindesten mit ihm konkurrieren zu wollen oder zu können, „knipste“ man mit der „Box“ oder der alten „Voigtländer“ hie und da auch mal anlässlich einer Bahnfahrt eine 03, eine 50er oder eine V 200. Na gut, ein Puffer ist abgeschnitten und etwas schärfer könnte das Produkt auf dem Rollfilm auch sein, aber eine Erinnerung fürs Album ist gesichert. Man kann es ja beim nächsten Mal besser machen, kann auf eine Reise gleich mal zwei Filme mitnehmen, und die 39 oder die 56, die da noch rangiert, könnte man eigentlich auch mal aufnehmen.

Zu Weihnachten lag frühestens 1960 ein wunderbares Buch auf dem Gabentisch: Karl Ernst Maedels „Geliebte Dampflok“, die literarische Gründungsurkunde für eine Leidenschaft, aus der alsbald eine 1962 noch unvorstellbare Reise-, Fotografier-, Sammel-, Forschungs- und Schreibbewegung entstehen sollte. Dass man sich ganz einfach voraussetzungslos für Dampflokomotiven begeistern kann, auch wenn man es nicht „für die Schule braucht“ oder der Papa nicht „auch bei der Bahn ist“, das hatte noch niemand so deutlich und schön formuliert.

Da fuhr doch voriges Jahr noch …
Unser Abstand zur klassischen Epoche der Dampfloks und der Altbau-Elloks, der grünen Wagen und der Formsignale, der doppelmastigen Telegrafenleitungen und der handbedienten Bahnschranken hat sich von meinetwegen 1984 oder 1992 oder 2000 bis heute zwar rechnerisch vergrößert, ist aber gefühlt längst immer gleich, nämlich unendlich groß. Der Beobachter irgendeines Jahres vor oder nach 1962 sah sich hingegen mit einem bestürzenden Tempo von Veränderung konfrontiert. Da hatte er 1956 oder 1959 schon manches über moderne Elektrolokomotiven und amerikanische Dieselzüge gelesen, über futuristische Einschienenbahnen, schließlich gar über Atomloks und über die denkbare vollständige Abschaffung der Eisenbahn.

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