29 Promille Steigung

Wo 1939 noch namhafte Schnellzüge wie der FD 80 von Berlin nach München mit Kurswagen nach Rom vorüberjagten, war 1945 plötzlich die Welt zu Ende – auf beiden Seiten

 
Am Nachmittag des 13. Juni 1935 lichtete Carl Bellingrodt an dem bekannten Wärterwohnhaus beim Kilometer 42,7 die 44 001 auf ihrer Bergfahrt nach Steinbach am Wald ab © Lok-Magazin
Das bayerische Bier – es wird wohl ein fränkisches gewesen sein – zog auch viele Gäste aus Thüringen an. Gläsegeklapper, lautes Lachen, Stimmengewirr tönten aus dem Biergarten am Falkenstein. Mit dem Zug waren sie aus Saalfeld, Arnstadt oder Jena gekommen, dann in Probstzella ausgestiegen und die gut zwei Kilometer hinüber nach Bayern gewandert, nun gut, ein besserer Spaziergang. Im Schatten unter den Bäumen ließ es sich gut verweilen.

Meine Großmutter erzählte davon, auch sie war einmal dort, irgendwann in den 1920er-Jahren, jung verliebt … Ab und an wurde das Stimmengewirr übertönt, wenn in unmittelbarer Nähe, keine 25 Meter vom Ausschank entfernt, ein Zug vorbeirollte, talwärts mit kreischenden Bremsen, dann verstand man sein eigenes Wort nicht mehr.

Gegen den Berg in Richtung Ludwigsstadt war der dumpfe Drillingstakt einer 44er oder einer preußischen G 12 zu vernehmen, vor Güterzügen, an deren Ende eine 95er oder 96er nachschob. Fachmännische Kommentare der Männer begleiteten das Stakkato der Auspuffschläge, Frauen musterten argwöhnisch ihre weißen Sonntagsblusen auf Brandlöcher. Selbst der sonst so weiche Auspuffschlag der bayerischen S 3/6 klang hier in der Steigung bellend scharf, und wieder tobte am Schluss des langen Schnellzuges eine 95er oder 96er in voller Kraftentfaltung bergan.

Elektrisch über den Berg
Das war in den 1920er- und 1930er-Jahren Alltag. Dann kamen die „Fliegenden Züge“ hinzu, das war die moderne Reichsbahn, elegante Triebzüge, deren Dieselsound am Berg besonders gut klang. Und auf einmal wurde überall an der Strecke geschachtet, wurden Fundamente für die Fahrleitungsmasten gegossen. Am 1 5. Mai 1939 war man fertig und konnte elektrisch fahren.

Nun surrten die modernsten Elloks der Deutschen Reichsbahn über die Rampe, E 18 und E 19. Doch im Grunde war alles vorbei: Im Herbst des Jahres 1939 war Krieg! Nie wieder wurde der Biergarten am Falkenstein ein Ort freudvoll-lärmender Begegnungen aus allen Himmelsrichtungen. Genau, wo die alte Steinbogenbrücke über die Loquitz führt, stand 1945 der Schlagbaum, der die amerikanische Zone von der sowjetischen trennte. Kalter Krieg, tiefes Misstrauen, Rückfall in völlige Provinzialität beiderseits der Grenze folgten.

40 Jahre alles dicht
Auf westlicher Seite konnte man noch bis zu dieser Brücke gelangen, am Biergarten war ein provisorischer Haltepunkt errichtet worden, der von Ludwigsstadt her angefahren wurde, und bis in die 1980er-Jahre gab es auch einen Wirt. Auf DDR-Seite war eine solche Annäherung an die Grenze unmöglich: Weit nördlich von Probstzella, bei Marktgölitz, stand an der Landstraße ein Kontrollposten.

Er markierte den Beginn des Sperrgebietes, das nur Anwohner mit gültigem Passierschein oder Personen mit Sondergenehmigung betreten durften. Die Verbindungsstraße von Ludwigsstadt nach Probstzella hatte man am Falkenstein gekappt. Das Gebäude der ehemaligen Ausflugsgaststätte ist heute sehr schön restauriert, doch Schilder „Achtung Privatgelände“ weisen einen ab. Gespenstische Stille überall. Die ICEs gleiten leise vor - über, ab und an quietscht es etwas in den engen Bögen, mehr als 70, vielleicht 80 km/h sind hier nicht drin …

Erst spät an Bedeutung gewonnen
Am 1 . Oktober 1 885 waren am Falkenstein zum allerersten Mal Geräusche eines Eisenbahnzuges zu hören. Das ist relativ spät und die Vorgeschichte ist lang: In der Euphorie der glücklichen Tage von 1835, da zwischen Nürnberg und Fürth der erste Zug in Deutschland fuhr, hatte die Ludwigsbahn hochfliegende Ziele: 1836 ersuchte man die Regierung in München, eine Bahn von Nürnberg nach Hof bauen zu dürfen!

Nun, damit hatte sich die Ludwigsbahn etwas übernommen, der Staat übernahm das Projekt und führte es dann als Ludwigs-Nord-Süd-Bahn auch Schritt für Schritt aus. 1844 war Bamberg per Schiene erreichbar, 1846 Lichtenfels und 1848 Hof. Im selben Jahr war Plauen erreicht und Sachsen und Bayern hatten Schienenkontakt. In Sachen Verbindung nach Preußen über den Frankenwald tat sich lange gar nichts.

Nur die Stadt Stockheim ließ nicht locker und kämpfte verbissen um einen Bahnanschluss, der in Hochstadt von der Linie Nürnberg – Hof abzweigen sollte. 1860 endlich war dem Vorhaben Erfolg beschieden. Ein Jahr später hatte Kronach einen Bahnhof und 1863 endlich Stockheim. Dort wurden damals Steinkohlen gefördert! Ein gewichtiger Grund für einen Bahnanschluss, aber mehr wollte man nicht.

Was tat sich derweil in Thüringen?

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