Neue Schale, alter Kern

Schon drei Jahre nach ihrer Gründung stellte die Deutsche Bundesbahn ihre ersten neuen Elektro-Triebzüge in Dienst. Es waren modern anmutende Fahrzeuge, unter deren schicker Schale sich aber noch eine Menge althergebrachter Vorkriegstechnik verbarg. Von Martin Weltner

 
Unterhalten wurden die Triebzüge im AW München-Freimann. Dort steht am 15. Mai 1979 zwischeneinem 425er und einem 430er der 456 104 Edgar Fischer/Archiv GeraMond © Edgar Fischer
In den Großräumen Nürnberg und Stuttgart war schon vor dem Zweiten Weltkrieg der elektrische Betrieb aufgenommen worden. Durch Kriegseinwirkungen waren aber viele der elektrischen Triebzüge beschädigt oder zerstört worden, so dass teilweise Dampfzüge unter Fahrdraht fahren mussten. Folglich galt es, schnell neue Triebzüge zu entwickeln und zu bauen.
Dieser Aufgabe nahmen sich das BZA München sowie die Maschinenfabrik Esslingen, die Firma Fuchs in Heidelberg sowie Rathgeber in München an. BBC lieferte die elektrische Ausrüstung, wobei solch elementare Dinge wie Fahrmotoren und Transformatoren aus Vorkriegsfertigung Verwendung fanden. Schon im Mai 1952 konnte der erste ET 56 in Dienst gestellt werden: Ein formschönes Fahrzeug mit der zeittypischen „Eierkopf“-Stirn.

Ein ET 56-Zug bestand aus drei Teilen: Bei den beiden Triebköpfen waren jeweils die beiden Achsen des führenden Drehgestells angetrieben, der Mittelwagen hatte nur Laufdrehgestelle.
Zeit seines Lebens krankte der ET 56 an der nur mäßigen Höchstgeschwindigkeit. Anfangs waren nur 90 km/h zugelassen, da man bei der Konstruktion mehr Wert auf Beschleunigung als auf Höchsttempo Wert gelegt hatte. Erst in den 1970er-Jahren wurde nach Getriebeumbauten eine V/max von 110 km/ zugelassen.

Noch während des Jahres 1952 wurden sechs weitere ET 56 in Dienst gestellt, womit die Baureihe ET 56 vollständig abgeliefert war. Ein Weiterbau war nicht vorgesehen, denn längst war die Industrie mit der Konstruktion des äußerlich fast identischen ET 30 beschäftigt, der als echter Hochleistungstriebzug ab 1955 in größerer Stückzahl gebaut werden sollte. Der Reisende freut sich …
Welch einen Fortschritt der ET 56 gegenüber dem seinerzeit sonst gebräuchlichen Rollmaterial darstellte, veranschaulicht eine geradezu euphorische Berichterstattung in der Bamberger Lokalpresse anlässlich der Präsentation des neuen Zuges im Sommer 1952: „Wer Montagmittag den Städteschnellzug aus Nürnberg in den Bamberger Bahnhof einlaufen sah, der erlebte ein eindrucksvolles Beispiel von dem technischen Aufschwung, den die Bundesbahn seit dem Zusammenbruch genommen hat. Auf dem gleichen Platz, wo noch vor wenigen Jahren zwischen Bombentrichtern gerade der notdürftigste Verkehr mit mühsam zusammengeflickten Zügen aufrechterhalten wurde, glitt fast lautlos ein schnittiger, funkelnagelneuer Elektro-Triebwagen heran

… . Der neue Oberleitungswagen – so heißt er offiziell – besticht schon äußerlich durch seine elegante Stromlinienform und seinen leuchtend roten Anstrich mit einem eleganten cremefarbenen Streifen. Man glaubt, einen einzigen, lang gestreckten Wagen vor sich zu haben, so geschickt sind die drei Wagenteile zu einem Triebwagenzug zusammengefügt. Der gelenkartige Übergang von einem Wagen zum anderen ist durch eine Gummimanschette abgedeckt. Die Türen – vom Triebwagenführer zentral zu öffnen und zu schließen – passen sich in der Fahrt bis auf den Millimeter in die glatte Außenhaut, die Trittbretter klappen erst beim Halten automatisch heraus. Auch das Aneinanderkuppeln weiterer Wagen geschieht selbsttätig. Im Inneren ist der Zug in graublauen Tönen gehalten. Sämtliche Sitze sind gepolstert und mit Kunstleder überzogen. Eine geschmackvolle und neuzeitliche Ausstattung wird das Reisen mit diesem Fahrzeug zu einem Vergnügen machen …“

Diese Zeilen verraten bereits viel über all die Fortschritte, die der Zug bot. Es sei an dieser Stelle nur noch ergänzt, dass ein ET 56 in der damaligen 3. Klasse (ab 1956 2. Klasse) über 238 Vis-a-vis-Sitzplätze in 2+2-Anordnung sowie 24 ebenso angeordnete Sitzplätze in der alten 2. Klasse (ab 1956 wurde sie zur 1. Klasse) mit Plüschpolsterbezügen verfügte. Den Komfortunterschied zwischen den Klassen belegt auch die Tatsache, dass in der höherwertigen Klasse die Abteiltiefe (gemessen zwischen zwei Rückenlehnen) 2.000 mm betrug, in der niederen Klasse hingegen nur 1.600 mm. Neuartig waren auch die Fenster, deren oberes Drittel mittels Kurbel geöffnet werden konnte. Nicht nur der Reisende, auch der Triebwagenführer konnte sich freuen: Er schaltete und waltete jetzt in einem geräumigen Führerstand, der laut Presse „ … an die Vollsichtkanzel eines Flugzeugs erinnert … “ Wo fuhren sie denn?

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