Opfer der Neubautrasse

Seiten


Am 31. Mai 1980 aber, einem Samstag, herrschte entlang der Dransfelder Bahn alles andere als Ruhe. Im Bahnhof Göttingen stand der N 5559 nach Kassel und hinter der mit roten Nelken geschmückten 212 020 und dem planmäßigen MDi hingen ganze zehn statt nur drei „Silberlinge“. Die 212 003 am Zugschluss sollte nicht nur ihre Schwesterlokomotive auf der Dransfelder Rampe unterstützen, sondern auch die ganze Fuhre wieder zurück bringen.

Die Deutsche Bundesbahn hatte geladen – zur Abschiedsfahrt über die Dransfelder Strecke. Für 5,00 DM konnte jeder, der wollte, im „Hoher-Hagen-Express“ an diesem Ereignis teilnehmen. Bei bestem Wetter machten viele Göttinger von diesem Angebot Gebrauch. Zahllose Schaulustige säumten die Strecke und auf dem Rückweg kam es in Groß Ellershausen sogar zu einem spontanen Schienenfest.

Platz für die Neubaustrecke
Zwischen Göttingen und Dransfeld wurde an jenem 31. Mai 1980 der Betrieb komplett eingestellt. Gerüchten zufolge soll mit dem Abbau der Signalanlagen in Dransfeld bereits gleich nach Abfahrt des „Hoher-Hagen-Express“ auf dem Rückweg nach Göttingen begonnen worden sein.

Bereits im April 1982 war der Rückbau abgeschlossen, der Oberbau entfernt worden. Ein Grund für die Eile war, dass im Göttinger Ortsteil Grone die Trasse der Dransfelder Bahn für den Bau der Neubaustrecke Hannover – Würzburg benötigt wurde.

Auf dem Streckenabschnitt zwischen Dransfeld und Hann. Münden dagegen blieb der Güterverkehr zunächst erhalten. Schon seit Mitte der 1970er-Jahre setzte sich vormittags gegen 9:00 Uhr in Hann. Münden die Üg 68346 in Richtung Dransfeld in Bewegung, zuletzt bespannt mit einer 260 oder 261 vom Bw Kassel.

Bedeutende Bahnkunden in Dransfeld waren bis Anfang der 1970er-Jahre eine Basaltverladung und bis 1984 die Raiffeisenbank. Typisch waren deshalb in den letzten Betriebsjahren der Dransfelder Bahn die zwei- und vierachsigen Schwenkdachwagen der Gattung Tdgs und Tadgs sowie einfache geschlossene Güterwagen für Stückgut. Der letzte verbliebene Bahnkunde war in Oberscheden angesiedelt: Bis 1994 hielt die Futtermittelfabrik Hemo Mohr der Bahn die Treue.

Streckenwanderung heute
Heute ist vom einstigen Hauptbahncharakter der Dransfelder Strecke nichts mehr zu erahnen. Auf den ersten zwei Kilometern vom Bahnhof Göttingen aus wird ihre Trasse von der Schnellfahrstrecke Hannover – Würzburg benutzt. Ab dem ehemaligen Bahnübergang Siekweg (km 111,1) im Göttinger Ortsteil Grone bis zum ehemaligen Bahnübergang am Rischenkrug (km 119,2) wurde ein Fahrradweg angelegt, der allerdings größtenteils nicht befestigt ist. Vom Rischenkrug bis Dransfeld (km 123,8) hat sich die Natur der Trasse bemächtigt.

In Dransfeld selbst ist die das ehemalige Bahngelände teilweise überbaut, das einzige erhalten gebliebene Empfangsgebäude an der Strecke befindet sich in Privatbesitz. Ein benachbartes Nebengebäude der ehemaligen Bahnmeisterei beherbergt ein Jugendzentrum.

Zwischen Dransfeld und dem Gut Wellersen (km 128,0) hat der Landkreis Göttingen als Eigentümer der Trasse einen Rückzugsraum für seltene Tierarten geschaffen. Im Sommerhalbjahr sollen Weidetiere die Vegetation kurz halten. Der alte Bahndamm wurde eingezäunt und soll von Unbefugten nicht betreten werden. Zwischen Wellersen und Scheden ist ein kurzes Stück der ehemaligen Strecke als Radweg ausgebaut, der größte Teil jedoch weitgehend sich selbst überlassen. Teilweise liegen noch die Gleise.

Zwischen Scheden und Hann. Münden schließlich ist die alte Trasse verwildert. Den Volkmarshäuser Tunnel kann man durchwandern, es empfiehlt sich dringend die Mitnahme einer Taschenlampe. In Hann. Münden sind einige Abschnitte der Trasse überbaut, die Werrabrücke ist noch vorhanden. Das Dransfelder Gleis am Hausbahnsteig ist einer Modernisierung des Bahnhofs zum Opfer gefallen.

Von Johannes Poets

Ein Artikel aus LOK MAGAZIN 08/12.
 

Seiten

Tags: 
Weitere Themen aus dieser Rubrik

ET 184 41, 42/ ET 185 01: Elektrische Pioniere

Am 4. Dezember 1895 eröffnete die Localbahn AG in Württemberg zwischen Meckenbeuren und Tettnang die erste elektrische Vollbahn in Europa.

Für den...

weiter

Baureihe 140 im Emsland: Die Funken schlagen

Im Emsland tummelten sich früher die Dampflokfans. Doch Geschichte wiederholt sich: Das Emsland zieht heute Ellok-Nostalgiker an. Warum das so ist, lesen Sie hier!

Lokführer im Ruhrgebiet in den 1970ern: Oft um den Kirchturm herum

In den frühen 1970er-Jahren arbeitet Peter Schricker als Lokheizer im Bahnbetriebswerk Duisburg-Wedau. Seine Dampflok-Einsätze sind die typischen jener Jahre:... weiter