Possendorfer Heddel

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Die Gattung I TV
Bei Hartmann in Chemnitz entstanden von 1910 bis 1914 18 Lokomotiven der Gattung I TV (lies: eins TeVau). Wegen der geringen Länge der zu befahrenden Strecke konnten sie als Tenderlokomotiven ausgebildet werden. Sie unterschieden sich deutlich von den 20 Jahre zuvor gebauten Maschinen der Gattung MI TV.
Die I TV waren mit einer Länge über Puffer von 11.624 mm deutlich länger als die MI TV (9.060 mm). Sie hatten mit 1.260 mm einen größeren Raddurchmesser (MI TV = 1.100 mm) und mit 2.000 mm einen größeren Achsstand im Drehgestell als die MI TV mit 1.750 mm. All das bescherte den I TV schon ein deutlich besseres Laufverhalten als es bei den MI TV zu beobachten war. Dennoch war auch das Laufverhalten der I TV eigentlich sehr bescheiden, was ihr den Spitznamen „Possendorfer Heddel“ nach ihrem Zielbahnhof auf dem Windbergmassiv einbrachte. Der Begriff „Heddel“ stammt aus dem ostsächsischen Sprachraum und bezeichnet eine gehbehinderte alte Frau, die sich, hin- und herschaukelnd, an ihrem Stock vorwärts bewegt.
Typisch für die Bauart Meyer sind die sich in Fahrzeugmitte gegenüberstehenden Zylinder. Bei Vorwärtsfahrt, also mit der Rauchkammer voraus, arbeitet das Triebwerk im vorderen Drehgestell vorwärts, das im hinteren Drehgestell gegenläufig, also rückwärts. Das vordere Triebwerk besitzt Hochdruck-Zylinder und nutzt den Vorteil des kürzeren Dampfweges für den HD-Dampf. Bei der Gattung MI TV saßen die HD-Zylinder im hinteren Drehgestell; man nahm damit den Nachteil langer Hochdruck-Dampfleitungen in Kauf.
Die HD-Zylinder der I TV besaßen 360 mm Durchmesser, die ND-Zylinder im hinteren Drehgestell 570 mm. Der Kolbenhub war mit 630 mm für beide Zylindergruppen gleich. Für den HD-Dampf war eine HD-Stopfbüchse am HD- und eine am ND-Zylinder erforderlich. Der ND-Abdampf gelangte über eine ND-Stopfbuchse und eine im vorderen Drehgestell verlegte Abdampfleitung in den Auspuff. Für die Dampfverteilung wählte man eine Steuerung der Bauart Heusinger mit Flachschiebern. Wegen der in Lokomotivmitte angeordneten Zylinder überkreuzten sich Steuerungsteile, Treib- und Kuppelstangen dicht gedrängt vor den beiden Radsätzen des vorderen und hinteren Triebdrehgestells, was den Maschinen auch die Spitznamen „Kreuzspinne“ oder „Heuwender“ eintrug.
Bei den fahrenden Lokomotiven wurde eine Drehbewegung der Drehgestelle um eine senkrechte Achse erzeugt, was zu unruhigem Lauf führte. Bei den MI TV war der Effekt durch die kleineren Raddurchmesser und den kürzeren Achsstand noch gravierender als bei der I TV. Man versuchte, bei den MI TV diesem Mangel dadurch zu begegnen, indem man die beiden Drehgestelle durch Kuppelstangen kreuzweise verband. Das war keinesfalls eine optimale Lösung, weil dadurch das führende Drehgestell gezwungen wurde, sich im falschen Winkel zur anlaufenden Schiene einzustellen.
Obwohl die Bauart Meyer noch mehr als die Bauart Mallet zum Schleudern neigte, dürfte die Wahl für die Bauart mit zwei Triebdrehgestellen auf die deutlich besseren Laufeigenschaften bei Rückwärtsfahrt zurückzuführen sein.
Die Windbergbahn gilt als die erste Gebirgsbahn Deutschlands, man sprach auch vom „Sächsischen Semmering“. Das mag bei einer Höhe des Windberges von 352 Meter ü. NN ein wenig lustig klingen, aber immerhin waren Steigungen von 25 Promille und sehr enge Radien von 85 Meter zu überwinden, um auf die Possendorfer Höhe zu gelangen. Das waren Radien, die einer Schmalspurbahn zur Ehre gereichten.
Für den steigenden Ausflugsverkehr beschaffte die Königlich Sächsische Staats-Eisenbahn 1912 vier Aussichtspersonenwagen mit jeweils 40 Sitzplätzen. Sie waren den Krümmungsverhältnissen angepasst, besaßen einen Achsstand von 4.500 mm. Die Gattungsbezeichnung lautete C Sa 12, die Bahnnummern 3497 bis 3500. Hersteller war der Waggonbau Bautzen. Einen dieser vier Wagen blieb lauffähig erhalten.
Die I TV waren für eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zugelassen. In der Ebene zogen sie bei dieser Geschwindigkeit eine Masse von 420 Tonnen. Auf fünf Promille Steigung wurden 390 Tonnen mit 35 km/h bewältigt, auf Steigungen von zehn Promille waren es 380 Tonnen mit 25 km/h. Auf Rampen von 25 Promille, wie sie auf der Windbergbahn vorkamen, waren es noch 195 Tonnen mit 20 km/h.
Bei der DRG, die noch 15 Maschinen in ihren Bestand übernahm, erhielten die Maschinen die Betriebsnummern 98 001 – 015 und das Gattungszeichen L 44.15. Man hielt sie trotz der 15 Tonnen Achslast also für Lokalbahnlokomotiven.

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