Retter der Nebenbahnen

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Mit wirtschaftlich unrentablen Nebenbahnen musste sich nicht erst die Deutsche Bundesbahn beschäftigen. Bereits die Deutsche Reichsbahn setzte sich in den 1930er-Jahren damit intensiv auseinander. Ab dem Sommerfahrplan 1932 startete beispielsweise die Direktion Regensburg unter dem Begriff „Nebenbahnmotorisierung“ einen Feldversuch mit unterschiedlichen Verbrennungstriebwagen. Dabei kamen 30 zweiachsige Triebwagen (VT 133 und VT 135) von den Herstellern Henschel, LHB, MAN, Westwaggon und Wumag mit einem Leistungsspektrum von 100, 120, 135, 150, 180 und 200 PS zum Einsatz.
Nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges knüpfte die Bundesbahn dort an, wo die Reichsbahn kriegsbedingt aufhören musste. Bereits 1950 konnte der Prototyp des VT 95 mit zehn Stück (VT 95 901 – 910) der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die junge Bundesbahn zeigte sich entschlossen, der Konkurrenz das Feld nicht kampflos zu überlassen. Gegenüber dem Kraftverkehr – egal ob Krad, Omnibus, Lkw oder Pkw – galt es, die Schiene attraktiver zu gestalten. Obendrein begünstigte die politische Ausrichtung den Kraftverkehr aufgrund der Verkehrsentwicklung gegenüber der Bahn über Gebühr. Dem Straßenomnibus auf dem Land vermochte die Bundesbahn nichts Adäquates entgegenzusetzen.
Oberreichsbahnrat August Brand schrieb dazu 1951 in seinem Buch „Der Schienenbus als wirtschaftliches Schienenfahrzeug“: Es war daher ein Gebot der Stunde, durch Schaffung neuer, ansprechender, aber trotzdem billiger Fahrzeuge den Verkehr auf der Schiene so zu verbessern, dass nicht nur die Abwanderung aufgehalten, sondern darüber hinaus die Fahrgäste wieder der Schiene zurückgewonnen wurden. Angesichts der allgemeinen Lage und der Finanzlage im besonderen mußten daher Fahrzeuge gebaut werden, die den einfachen Verhältnissen der Nebenbahnen entsprechen, billig in der Herstellung und Unterhaltung sind und in kürzester Zeit geliefert werden können.“
Folglich schuf man zunächst den VT 95. Die niederrheinische Waggonfabrik Uerdingen und der renommierte Braunschweiger Omnibus- und Lastkraftwagen-Hersteller Büssing machten es möglich, gemeinsam in weniger als einem Jahr den Schienenbus der Baureihe VT 95 aus der Taufe zu heben. Er entstand konzeptionell in Anlehnung an einen bewährten Trambus. Dabei wurden Bauteile vom Straßen- auf den Schienenomnibus übernommen. Angelaufen war das Projekt noch zu Zeiten der Deutschen Reichsbahn in den Westzonen unter Federführung des Reichsbahn-Zentralamtes München.
Trotz des unbestrittenen Erfolges des VT 95 traten im Alltagsbetrieb die Nachteile des schwach motorisierten Gefährts zu Tage. In bestimmten Einsatzbereichen war er schlicht überfordert, ergo nur bedingt oder gar nicht zu gebrauchen. In Steigungsfahrten mit angehängtem Beiwagen bei gleichzeitig guter Auslastung wurde schnell das Leistungsvermögen des Einmotorers überschritten. Obendrein konnte aufgrund des begrenzten Platzangebots der Triebwagen auf Verkehrsschwankungen oft nur unzureichend flexibel reagiert werden. Hinzu kam im Herbst und Winter die Problematik mit schlüpfrigen Schienen und die dabei auftretenden Traktionsschwierigkeiten, verursacht durch das zu geringe Reibungsgewicht bei nur einer angetriebenen Achse.
Logische Konsequenz war also die Entwicklung eines leistungsfähigeren, in allen Belangen alltagstauglicheren Schienenbusses. Dieser sollte allerdings wesentlich auf der Konstruktion des VT 95 basieren. Daraufhin lieferte Mitte 1953 die Waggonfabrik Uerdingen drei zweimotorige Exemplare, die als VT 98 901 bis 903 nach Passau kamen.
Bei diesen Triebwagen kamen zwei aufgeladene Büssing-Unterflurmotoren der Bauart U 9 A mit 150 PS zum Einbau. Die Triebwagen übernahmen ab dem 28. Juni 1953 auf der Strecke Passau – Wegscheid den Personenverkehr. Zwischen Erlau und Wegscheid war die Strecke bei einer Steigung von bis zu 68,9 Promille teilweise mit Zahnstangen versehen, wo bis zum Erscheinen der Schienenbusse der Verkehr von bayerischen Zahnraddampfloks der Gattung PtzL 3/4 (Baureihe 971) bewältigt wurde.
Die mit den VT 989 auf der betriebstechnisch anspruchsvollen Strecke hinauf nach Wegscheid gesammelten Erfahrungen konnten derart überzeugen, dass sich die Deutsche Bundesbahn ab 1955 zum Serienbau des zweimotorigen VT 98 entschloss. Der neue VT 98 präsentierte sich gegenüber dem Prototyp als deutlich modifiziertes Fahrzeug. Zwecks besserer Fahreigenschaften erhielt er unter anderem neu entwickelte Laufgestelle. Wesentliche sichtbare Neuerung war die Ausstattung mit der allgemein gebräuchlichen Schraubenkupplung mit Hülsenpuffer, einhergehend mit einem verstärkten Unter- und Fahrgestellrahmen. Eingebaut wurden ausschließlich Büssing-Motoren vom Typ U 10 mit 150 PS. Die Höchstgeschwindigkeit blieb mit 90 km/h unverändert.

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