Wir sind wieder wer!

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Irgendwann in den 1960er-Jahren empfand ich es als einen bemerkenswert schönen Zug eines gewissen Komponisten namens Richard Wagner (vermutlich eines Bruders des Schöpfers der Einheitslokomotiven Richard Paul Wagner?), dass er dem schönsten Zug der Deutschen Bundesbahn eine ganze Oper widmete. Da mochte noch einer sagen, die Eisenbahn sei nicht mehr populär. Nun ja, ich ahnte schon, dass die zeitliche Reihenfolge umgekehrt gewesen war. Schon 1869 war das große Musikstück aus germanischer Mythologie erstmals aufgeführt worden. 1928 hatten Reichsbahn und MITROPA ihren luxuriösesten Zug danach benannt. 1951 hatte ihn die Bundesbahn als „Rheingold-Express“ wieder aufleben lassen, freilich als dreiklassigen schweren Schnellzug. 1952 war er wieder zum Luxuszug mit nur 1. und 2. Klasse aufgerückt, die 1956 zur neuen 1. Klasse zusammengeführt wurden. Zum Sommerfahrplan 1962 erhielt das Zugpaar F 9/10 „Rheingold“ mit dem nunmehrigen Laufweg Amsterdam – Basel SBB sein exklusives neues Fahrzeugmaterial. Zehn Wagen mit Abteilen, fünf Großraumwagen, drei Aussichtswagen mit einer auf deutschen Bahnen noch nie gesehenen erhöhten Glaskanzel und zwei mit buckelig erhöhtem Küchenbereich ebenfalls auffällige Speisewagen zeichneten sich aus durch eine zweifarbige Lackierung in Blau und Créme, besonders große Fenster, Klimaanlage, Lauftechnik für 160 km/h sowie zweite Luftleitung und mehrpoliges Kabel für die Erfordernisse von Türschließeinrichtung, Klima- und Lautsprecheranlage.

Die Lokomotiven E 10 1239 – 1244 hatten Drehgestelle für die erhöhte Geschwindigkeit und die dem Zug angepasste Sonderlackierung erhalten. Im Oktober 1962 gaben sie ihre Drehgestelle an die neu gelieferten E 10 1265 – 1270 weiter und wurden selbst zur Regelbauform rückverwandelt. Die neuen Loks zeigten das neue Gesicht mit „Bügelfalte“.

Wer heute den ICE auf der Neubaustrecke Frankfurt – Köln im Stundentakt benutzt und sich schon nicht mehr darüber aufregt, dass die ach so unfähige neue Bahn wieder einmal nur mit 250 statt mit 330 km/h fährt, mag darüber lächeln, dass man vor einem halben Jahrhundert einen neuen Zug feierte, der am Oberrhein „160“ fahren durfte – und sich am romantischen Mittelrhein mit Geschwindigkeiten des Dampflokzeitalters durch die Städte und um die Felsnasen schlängelte. Aber: 160 km/h, das war die legendäre Höchstgeschwindigkeit der Schnelltriebwagen vor 1939 gewesen.

Wir sind wieder wer
Die absolute Mehrheit für Adenauers CDU, eine epochale Rentenreform und der TEE 1957, der „Rheingold“ 1962, elektrischer Betrieb bis Hamburg und erste Publikumsfahrten mit bis zu 200 km/h 1965, Farbfernsehen 1967, dazu jedes Jahr neue Autobahnabschnitte und phänomenale Wachstumszahlen, Exporterfolge und Konsumrekorde – der Bundesbürger sah sich in seinem Gefühl „Wir sind wieder wer“ durchaus bestätigt.

Die Eisenbahn jedoch hatte es aufs Ganze gesehen in dieser Zeit nicht leicht. Straßen- und Luftverkehr waren populärer. Noch gab es auch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse oder politischen Bewegungen, die zu Fragen des Verkehrsmarktes neue Nachdenklichkeit und neue Entscheidungen gefordert hätten. Die Worte „Umweltschutz“ oder „Ölpreis“ fehlten im Wörterbuch von 1962.

Trotz eines Wirtschaftswachstums von 4,1 Prozent ging der Personenverkehr auf der Schiene um 1,5 Prozent zurück, der Güterverkehr um 1,1 Prozent. Für sich genommen sind das undramatische Zahlen, die jedoch einem langjährigen Trend entsprachen.

In der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen wurde eine in vollem Gang befindliche Revolution der Energiewirtschaft, die Abkehr von der Steinkohle. Die Abfuhr von Ruhr- und Saarkohle war mehr als ein Jahrhundert lang solides Kerngeschäft der Bahn gewesen. Wenige Jahre nach dem weltpolitisch aufregenden, aber daheim sorglosen Jahr 1962 würde eine Arbeitslosigkeit ausgerechnet im Ruhrgebiet Politik und Staatsfinanzen erschüttern. Und die Bahn selbst brauchte auch immer weniger Kohle, in jenem fernen 1962 …
Von Andreas Knipping

Ein Artikel aus LOK MAGAZIN 01/12

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