Zug Verspätung

Kampf um Minuten. Niemand verspätet sich gern. Doch was soll man tun gegen Naturgewalten? Im Führerstand auf der 103.

 
Lokführersicht: Auf dem Weg nach München zwischen Mering und Olching. © Lok-Magazin
Setzt man voraus, dass die Stärke der Schwüle proportional zur Stärke des Gewitters ist, hätte es an jenem Sonntag eigentlich so schlimm nicht werden können. Auf dem Programm stand der Euro Night (EN) 482 München – Kopenhagen von Nürnberg bis Würzburg. In Nürnberg sollte er planmäßig abfahren um 21 .35 Uhr. Laut Monitor der Transportleitung war er in der Ankunft 15 Minuten über Plan, Grund: Unwetterschäden.

Zug Verspätungen - Theorie und Praxis

Na ja, soviel zu meiner Theorie. Ankommend hatte er mehr, und letztlich fuhr ich 30 Minuten später ab. Die Lok, eine 1 03, brummte mit dem Geräusch der Lüfter und dem Klappern der Heizgitter hinter mir aus dem Nürnberger Hauptbahnhof in die schwüle Nacht. Fürth wurde mit 1 20 km/h durchfahren, und als ich ab Kilometer 0,6 wieder auf 40 km/h beschleunige, zuckten am Horizont in Richtung Würzburg erste Blitze.

Fahrstufe auf Fahrstufe rastete ein, 550 Ampere Oberstrom brachten die neun Wagen auf Geschwindigkeit. Siegelsdorf, Hagenbüchach, Ems - kirchen eilten vorbei, und obwohl die Fahrzeit des Zuges sehr knapp bemessen war, kämpfte ich gegen die Verspätung, reizte jeden Geschwindigkeitswechsel aus. Neustadt (Aisch) durchfuhr ich 28 Minuten nach Plan, zwei Minuten waren also schon aufgeholt.

In der Ausfahrt nach Würzburg verabschiedet sich das Vor- und Hauptsignalsystem, die Linienzugbeeinflussung (LZB) übernimmt. Im Gleis liegt ein Sendekabel, in dem permanent Informationen über Signalstellungen und die Position vorausfahrender Züge eingespeist sind. Die Daten meines Zuges stellt der Fahrzeugrechner meiner Lok dem System zur Verfügung. Sende- und Empfangsantennen an der 1 03 tauschen die Daten aus.

Im Führerraum zeigt mir die Zielentfernung an, wie weit die Strecke vor mir frei ist, „V Ziel“ die Geschwindigkeit am Zielpunkt der Zielentfernung und „V Soll“ die zulässige Geschwindigkeit meines Zuges. Alle Informationen werden optisch und gegebenenfalls unterstützend akustisch dargestellt, sodass ich theoretisch den Sonnenschutz vollständig schließen könnte – gefahren wird in der Regel nach den Anzeigen im Führerraum!
 

Mehrere Gewitter über Würzburg

Mein Zug lief nach Fahrplan mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 1 40 km/h, und mit den 1 0.000 PS der Reihe 1 03 ist sie auch leicht einzuhalten. Markt Bibart war vorbei, und nun begann ein Naturschauspiel ohne gleichen. Ab Hellmitzheim fällt die Strecke bis Würzburg in den Talkessel ab, sodass man das Würzburger Becken vor sich sieht. In diesem Talkessel waren mehrere Gewitter zusammengezogen, und der ganze Horizont war ein Meer aus Blitzen.

Der Himmel war dunkelviolett, sanft leuchtete ein heller Streifen am Horizont, die Lichter von Würzburg sahen fast aus wie ein Nordlicht. Windböen fegten durch Kornfelder, gleich Glühwürmchen sah man vereinzelte Autos fahren. Rundum, soweit das Auge reicht, erschienen immer wieder helle Flecken, wurden Wolkenbänke sichtbar im Widerschein der gigantischen Lichtquellen, die die Blitze umgeben.

Gleißende Strahlen sausten Richtung Erde herab. Weiße Zacken wechseln mit orangenen Bällen und Punkten, der Himmel erschien in allen Tönen von violett und weiß. Kurzzeitig wurde es im Führerraum taghell, und sekundenlang war ich geblendet. In Richtung Ochsenfurt ging ein Blitz nieder, mindestens sechs Sekunden lang stand er am Himmel, um plötzlich in Einzelteile zu zerplatzen, als würde man einen Stahlkessel anstechen.

Sekunden später sah ich plötzlich mein Gesicht in der Frontscheibe gespiegelt, und mit dem Heulen der Klimaanlage und dem Pfeifen des böig werdenden Windes im etwas undichten Fenster entwickelt sich eine gespenstische Stimmung. Büsche und Bäume am Bahndamm wogten im Wind, potenzielle Störungen für die Oberleitung sind dabei vorprogrammiert.

Aus der Dunkelheit tauchte das Einfahrvorsignal Kitzingen auf. Noch hatte ich 25 Minuten Verspätung. Dann Buchbrunn-Mainstockheim. Für die erlaubten 1 30 km/h waren 36 Fahrstufen notwendig. Dettelbach war vorüber und dann lag Würzburg vor mir, über der Stadt und den Außenbezirken ein leuchtendes, blitzendes und windiges Inferno.

Im Führerstand hörte ich die gewaltigen Donnerschläge draußen, die von den Seiten des Talkessels als Echo zurückgeworfen wurden wie Kanonenschüsse. In Rottendorf prasselten unvermittelt Regentropfen gegen die Scheibe, Druckluft zischte zu den Scheibenwischern, das Klacken der Bremsstufen war fast unhörbar und immer wieder erschien die Umgebung klar sichtbar mit jedem noch so kleinen Detail. Wie im Stroboskoplicht zuckten Äste und flogen die Masten der Fahrleitung vorbei.

Seiten

Tags: 
Weitere Themen aus dieser Rubrik

ET 184 41, 42/ ET 185 01: Elektrische Pioniere

Am 4. Dezember 1895 eröffnete die Localbahn AG in Württemberg zwischen Meckenbeuren und Tettnang die erste elektrische Vollbahn in Europa.

Für den...

weiter

Baureihe 140 im Emsland: Die Funken schlagen

Im Emsland tummelten sich früher die Dampflokfans. Doch Geschichte wiederholt sich: Das Emsland zieht heute Ellok-Nostalgiker an. Warum das so ist, lesen Sie hier!

Lokführer im Ruhrgebiet in den 1970ern: Oft um den Kirchturm herum

In den frühen 1970er-Jahren arbeitet Peter Schricker als Lokheizer im Bahnbetriebswerk Duisburg-Wedau. Seine Dampflok-Einsätze sind die typischen jener Jahre:... weiter